Interviews und Gastkommentare


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“Das Alter und die Lebensphase sind entscheidende Faktoren, nicht die Generation”

Noch nicht lange im Berufsleben oder mitten in der Berufsausbildung befindet sich die Gruppe junger Menschen, die oftmals als Generation Z bezeichnet wird. Deren Mitglieder gelten als selbstbewusst, gegenüber Arbeitgebern als fordernd und nicht gerade treu. Wie Betriebe und Unternehmen junge Menschen für sich gewinnen können und was gegen den Arbeitskräftemangel getan werden muss, sind die Themen des Gesprächs mit Dr. Florian Keppeler von der Universität Aarhus (Dänemark). Der Politikwissenschaftler ist Mitglied im Kuratorium der Stiftung Flexible Arbeit..

Fühlen Sie persönlich sich der Generation Z zugehörig oder der Generation X oder Y?

Dr. Keppeler: Y kommt vielleicht hin. Aber die Frage ist, wer definiert welchen Blickpunkt: wann ist es Generation X, Y, Z oder Alpha? Und ergibt das überhaupt Sinn, auf Basis des Geburtsjahrs Schlüsse zu ziehen. Die Generationenkategorisierung wird überwiegend aus dem amerikanischen Raum definiert. Dabei wird davon ausgegangen, dass es einschneidende Ereignisse gibt, die eine ganze Generation prägen. Nine-Eleven, der Anschlag auf die Twin-Towers in New York, im Jahr 2001 gilt als so ein Ereignis oder das Millenium. Das soll angeblich die eine Generation von der anderen trennen.

Dem zeitlichen Rahmen folgt zunehmend auch eine Charakterisierung der jeweiligen Generationengruppe. Wie zutreffend ist die?

Dr. Keppeler: Es zeigt die Unsinnigkeit der Definition an sich. Es gibt irgendwelche mehr oder weniger willkürlich gewählten Ereignisse, die wohl für einen Kulturraum mehr prägend sind als für einen anderen. Insofern stellen sie auch wenig Übertragbarkeiten und Vergleichbarkeit her. In der Wissenschaft finden die keine Unterstützung. Es gibt keine belastbaren empirischen Belege für vermeintliche Generationsunterschiede hinsichtlich der Arbeitsmotivation. 

Woran liegt es, dass über die jungen Menschen, die in Ausbildung sind oder in den ersten Berufsjahren, oftmals pauschal geurteilt wird, indem sie der Generation Z zugeordnet werden, die wiederum als “faul, bequem, arbeitsunfähig” gilt, um nur einige der kursierenden negativen Attribute zu nennen? 

Dr. Keppeler: Das mögen Beobachtungen oder Anekdoten aus dem Alltag mit jungen Menschen sein. Allgemeingültig sind die nicht. Langzeitstudien finden keine Belege für Generationsunterschiede. Stattdessen zeigen sich Unterschiede zwischen Altersgruppen: Berufseinsteiger haben andere Bedarfe als Familienmitglieder mit Kleinkindern oder pflegebedürftigen Angehörigen. Es wird von der Lebensphase determiniert und nicht von irgendeiner Zugehörigkeit zu einer Geburtskohorte. Und zweitens geht es um die Bedeutung von Arbeit und wieviel Raum sie im Leben eines Menschen einnimmt: in den meisten westlichen Regionen nimmt die Bedeutung von Arbeit seit dem 19. Jahrhundert kontinuierlich ab.

Zu arbeiten, berufstätig zu sein, zielt nicht mehr auf existenziellen Broterwerb ab?

Dr. Keppeler: Soziologen zeigen in ihren Langzeitstudien einen Trend der allgemein abnehmenden Arbeitsmotivation. Der Soziologe Martin Schröder zeigt auf Basis von Befragungsdaten für 113 Länder, 580.000 Personen und einen Zeitraum von 1981 bis 2022 einen Trend: Die Menschen sind – unabhängig von ihrem Geburtsjahrgang – weniger motiviert zu arbeiten.

Das heißt hinsichtlich des Blicks auf die Arbeit unterscheiden sich die Generationen gar nicht so sehr? 

Dr. Keppeler: Man muss auf die Ursachen schauen, die sich in den Daten zeigen, und nicht auf irgendein Geburtsjahr. Es gibt Studien, die den Generationalismus sogar als Diskriminierung vor dem Hintergrund des Alters bezeichnen, weil es eine willkürliche Andersbehandlung von bestimmten Altersgruppen ist, ohne dass es dafür Belege in den Daten gibt. Für die soziologische und ökonomische Forschung sind Lebensphasen, ökonomische Zusammenhänge und gesellschaftliche Langzeitentwicklungen die möglichen Ursachen für die Veränderung der Bedeutung von Arbeit. 

Die Generationen und die dazugehörigen Schubladen haben ausgedient?

Dr. Keppeler: Der Generationenbegriff stammt aus den 1920er-Jahren von dem Soziologen Karl Mannheim. Demnach entsteht eine eigene Generation nur, wenn ein Geburtenjahrgang während seiner besonders prägenden Jugendjahre von den gleichen gesellschaftlichen Ereignissen beeinflusst worden ist, ohne dass der Rest der Gesellschaft dadurch ebenfalls beeinflusst wurde. Das steht im Gegensatz zu vielen populären Debattenbeiträgen, die etwa alle 15 Jahre eine Generation X, Y, Z ausrufen.
In einem Konsensusreport der amerikanischen Dachorganisation der Wissenschaftsakademien wurde eine Übersichtsstudie erstellt, um den Stand der Forschung zusammenzufassen. Eine der Konklusionen: Viele der vermuteten Generationsunterschiede sind Stereotypen, die keine angemessenen Informationsgrundlagen für Entscheidungen von Management oder Politik liefern können.

Und mit Blick auf die jungen Leute steht auch zu vermuten, dass ihre Eltern gar nicht das Rentenalter erreichen wollen, um die Berufstätigkeit zu beenden. Das prägt möglicherweise ebenso wie der Bekanntenkreis mit Menschen, die Teilzeitstellen haben.

Dr. Keppeler: Wenn Menschen im Alter von 63 in Rente gehen möchten, spricht man ja auch nicht von faulen alten Leuten. Aber man spricht von faulen jungen Leuten, wenn diese ihre Arbeitszeit reduzieren wollen. Man nimmt die Wochenarbeitszeit als Kennzahl und lässt dabei zum Beispiel außer Acht, dass die faulen Leute vielleicht die Aussicht auf ein deutlich längeres Arbeitsleben haben, wohl über 67 Lebensjahre hinaus.
Es würde wohl auch niemand sagen, dass Frauen zu faul sind, um Vollzeit zu arbeiten, nur weil deren durchschnittliche Arbeitsstundenzahl womöglich geringer ist. Wieder das Resultat einer falschen Kennzahl, und es zeigt auch die Absurdität der Generationendiskussion. Es sind ökonomische Rahmenbedingungen, die dazu führen können, wie beispielsweise Mangel an Kinderbetreuungsplätzen oder geringeres Einkommen bei Frauen teils für die gleiche Arbeit. Das hat nichts mit mangelnder Arbeitsmotivation zu tun, sondern mit den wahrgenommenen ökonomischen Gegebenheiten.

Arbeitgeber, Personalchefinnen und Personalchefs sollten den Generationenbegriff also vergessen? 

Dr. Keppeler: Genauso ist es. Wenn wir über Personalgewinnung sprechen, ist das maßgebliche Kriterium für eine zu besetzende Stelle der Arbeitsmarkt und dessen Teilbereich für die jeweilige Stelle. Wie ist der Wettbewerb um die Stelle, die ich da besetzen möchte? Das kann regionaler oder inhaltlicher Natur sein. 

Und wie sollten Arbeitgeber bei ihrer Suche vorgehen? 

Dr. Keppeler: Suche ich eine Schreinerin oder eine Ingenieurin? Das sind verschiedene Arbeitsmärkte, auf die sich unterschiedlich einzustellen ist. Dabei ist eben nicht der Generationenbegriff sinnvoll. Es ist nützlicher, sich die Arbeitsmarktlage vor Augen zu führen. 
Menschen, die jetzt auf den Arbeitsmarkt kommen, ob sie jung sind oder alt, ob sie eine oder mehrere Ausbildungen haben, haben heute ein anderes ökonomisches Standing, eine andere Verhandlungsposition. Weiterer Faktor: Die Berufseinsteiger sind häufig in anderen Lebenssituationen als es Berufseinsteiger vor 20, 30 Jahren waren. Die Elterngruppen sind zum Beispiel häufig älter und haben Bedürfnisse an Unterstützung. 

Das heißt, es ist stärker auf die individuellen Bedürfnisse einzugehen?

Dr. Keppeler: Es muss über Alter nachgedacht werden. In welcher Lebensphase befinden sich die Zielgruppen, die ich für eine Stelle gewinnen möchte, und was muss ich ihnen entsprechend bieten? Also, wie alt ist die jeweilige Person und in welcher Lebenssituation bewegt sie sich. Danach sollte ein Arbeitgeber sein Angebot maßschneidern. Das ist ein springender Punkt: Alter und Lebensphase sind erklärende Faktoren, nicht die Generation. In den soziologischen Studien zeigt sich das: Wenn man hinsichtlich der Alters- und Lebensphase-Effekte untersucht, verschwinden jegliche vermuteten Generationseffekte. Der Unterschied zwischen Alter und Generation: Nur das Lebensalter zählt und nicht eine Zuordnung zu einer Geburtskohorte. 

Der Arbeitsmarkt hat sich gewandelt und Arbeitskräfte fehlen. Wie wirkt sich das für Arbeitssuchende aus?

Dr. Keppeler: War man vor 25 Jahren in einem gewissen Berufsfeld für ein paar Monate arbeitslos, dann war der Wiedereinstieg schwer bis unmöglich. Das ist heute nicht zwingend der Fall. Dazu gibt es heute auf dem Arbeitsmarkt eine viel größere Offenheit gegenüber Karrieren, die früher ungewöhnlich waren, oder für Leute, die den Job wechseln. Heute wird positiv gesehen, wenn jemand sein Studium abbricht und ins Handwerk wechselt. Dann heißt es, “Mensch klasse, mutig. Handwerk hat Zukunft”. Das war nicht unbedingt die Erzählung vor 25 Jahren.

Wie beurteilen Sie den Blick der Arbeitgeber auf diese Veränderungen und den Nachwuchs sowie den Umgang damit? 

Dr. Keppeler: Es gibt viele, die sich sehr gut einstellen. Es ist auch nicht so, dass es keine beliebten Arbeitgeber mehr gibt, zu denen viele Arbeitskräfte wollen und nicht jeder hinkann. Bewerbungszahlen sind ein nützlicher Indikator für Arbeitgeber, um festzustellen, wo sie stehen. Aber viele Arbeitgeber haben die Herausforderung zu meistern, auf dem Arbeitsmarkt sichtbar zu sein. Egal, in welchem Eigentumsverhältnis – Familienbetrieb oder öffentliches Unternehmen – der Arbeitgeber ist, welche Angebote seine Firma standardmäßig bietet, wissen die Leute ja nicht. Der Arbeitsmarkt ist sehr laut, voller Störungen. In der Wissenschaft sagt man, „laut“ wie auf einem Marktplatz. Das bedeutet, es ist sehr schwer, zu den potenziellen Leuten durchzudringen und sie zu erreichen, da viele andere Stimmen auch nach der Arbeitskraft rufen und ihre Benefits anpreisen. Das ist eine große Herausforderung. Die meistern große Konzerne leichter, weil zum Beispiel ihr Produkt am Markt bekannt und sichtbar ist. 

Weniger bekannte Firmen, auch wenn sie attraktive Arbeit bieten, geraten ins Hintertreffen?

Dr. Keppeler: Zum Beispiel in der Automobilindustrie sind die Hersteller bekannt, weniger die Zulieferer. Deren Marken sind beim Kunden weniger präsent, fallen nicht auf. Diese Firmen kennt man als potenzielle Arbeitskraft meist nur, wenn die Betriebe ihren Sitz am Wohnort haben oder die Eltern dort tätig sind. Letzteres ist auch ein wichtiger Faktor. 

Welche Rolle spielen Region und Elternhaus bei der Berufs- oder Arbeitsplatzwahl? 

Dr. Keppeler: Früher waren die Wettbewerbsoptionen für Arbeitskraft geringer. Wenn man weniger über Alternativen weiß, kann das auch zu einer intensiveren Betriebszugehörigkeit führen. Heutzutage hat man die Möglichkeit, drei, vier, fünf Arbeitgeber auszuprobieren. Und die kämpfen ja auch um die Arbeitskräfte. Die Marktmacht hat sich verschoben von den Arbeitgebern zu den Arbeitnehmern. Und damit ist auch die Mobilität gestiegen, weil es mehr Angebote gibt. 

Sind die Angebote leicht zugänglich?

Dr. Keppeler: Wir haben eine bessere Informationslage über Arbeitgeber. Vor 30 Jahren war es schwer, ein Vergleichsportal zu Arbeitsplätzen zu finden. Eine bessere Information auf einem Markt führt mit dazu, dass mehr Bewegung herrscht. Interessanterweise haben wir auch weiterhin die Lage, so eine Studie von Arbeitsmarktökonom Simon Jäger, dass viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht immer wissen, wieviel mehr sie bei anderen Arbeitgebern verdienen können.

Was müssen die Arbeitgeber tun, die möglicherweise Spitzenlöhne und -gehälter zahlen und dazu ein ausgezeichnetes Betriebsklima bieten, damit sie von Berufsanfängern und Arbeitssuchenden wahrgenommen werden?  

Dr. Keppeler: Meine Empfehlung an Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber lautet, sich an fünf Leitfragen festzuhalten, um das Problem anzugehen und die richtige Botschaft zu senden:
– Was erzähle ich, etwas Neues oder bekannte Informationen? Neuigkeitswert geht vor trivialen Inhalten. 
– Authentisch bleiben und nichts übertreiben.
– Für Ausbildungsstellen müssen es nicht immer Schulabgänger sein, sondern es können auch andere Zielgruppen angesprochen werden, um auch Studienabbrecher oder Berufswechsler zu erreichen.
– Besonderes und Außergewöhnliches, also Alleinstellungsmerkmale, darstellen statt eine Stelle so beschreiben wie es alle Mitbewerber tun.
– Welches Medium wähle ich für die Stellenausschreibung? Im Printmedium wäre es mit Blick auf die Leserschaft sinnvoll, die Eltern anzusprechen und nicht deren Kind. Auf anderen Wegen braucht es andere Botschaften. Und man kann auf Multiplikatoren setzen. Lehrerinnen und Lehrer, Kundinnen und Kunden beispielsweise darüber informieren, wie der Betrieb aufgestellt ist, was er Mitarbeitenden zu bieten hat.

Das ist eine arbeitsaufwändige Liste. Viele Betriebe klagen darüber, dass sie die Zeit für Arbeitskräftewerbung nicht haben. 

Dr. Keppeler: Und das ist ein Fehler mit Folgen. Stattdessen sollte die Personalabteilung genauso ausgestattet sein wie beispielsweise die Einkaufsabteilung. Das ist ein Weg. Der andere kann nur mit der Politik beschritten werden, um den Mangel an Arbeitskräften, den es in allen westeuropäischen Ländern gibt, zu beheben.

Gute Angebote und bessere Werbung allein werden nicht reichen, um die freien Stellen in allen Branchen zu besetzen…

Dr. Keppeler: … in Deutschland werden laut einer Studie der Bertelsmann Stiftung in den nächsten Jahrzehnten jährlich ca. 300.000 bis 500.000 Arbeitskräfte zusätzlich gebraucht, die der deutsche Arbeitsmarkt voraussichtlich nicht bieten kann. Unternehmerinnen und Unternehmer müssen auf die politische Ebene weiter einwirken, um den Mangel an Arbeitskräften zu beheben.

Wie soll das gehen?

Dr. Keppeler: Deutschland muss offener werden für die Migration. Oder es gibt die Möglichkeit der Automatisierung, wie sie zum Beispiel in Japan voranschreitet. Aber ich weiß nicht, ob die Menschen in Deutschland beispielsweise von einem Roboter gepflegt werden möchten. In der Industrie gibt es häufig Automatisierungsbestrebungen, was aber nicht zwingend zu einem großen Jobsterben führt. Allerdings wird es dadurch zu Veränderungen und Verlagerung von Arbeit kommen. Dennoch bleibt Arbeitskraftmangel ein Standortnachteil für Deutschland.

Ist Deutschland spät dran, Arbeitskräfte aus dem Ausland zu überzeugen, hierher zu kommen?

Dr. Keppeler: In Skandinavien wird in der öffentlichen Debatte häufig klarer zwischen Arbeitsmarktmigration, Flucht und Asyl unterschieden. In Deutschland, so wirkt es auf mich, wird das nicht glasklar unterschieden. Etwaige Sorgen verbunden mit vielen Asylsuchenden scheinen einherzugehen mit einer vermeintlich ablehnenden Haltung in Sachen Arbeitsmarktmigration. In Dänemark gibt es momentan die Debatte, wie Menschen, die aus dem Iran oder Syrien kommen, in den Arbeitsmarkt integriert werden können, auch um den Pflegekräftemangel zu verringern. In Deutschland könnte deutlich mehr Energie investiert werden, um die Menschen, die hierhergekommen sind, in den Arbeitsmarkt zu bringen. Das würde auch in der Gesellschaft mehr Akzeptanz für notwendige Migration nach sich ziehen. Besser als langwierige Diskussionen über schwer zu realisierende Abschiebeszenarien zu führen, wäre es, die Menschen in Schulen, Berufsschulen und Ausbildungen zu bringen. 

Halten Sie die Bereitschaft dafür zu gering?

Dr. Keppeler: Umstellung und Umorientierung in der öffentlichen Debatte wäre erforderlich. Es ist nicht so, dass das nicht passiert. Aber es bräuchte einen stärkeren, flächendeckenderen Einsatz. So wäre wünschenswert, wenn man in Deutschland auch versteht, dass Integration nicht nur von der Politik gelöst werden kann. Ebenso wie Arbeitskräftemangel nicht nur von der Wirtschaft gelöst werden kann. Dazu braucht es Politik und Verwaltung, Wirtschaft und Zivilgesellschaft – das sind Aufgaben für die ganze Gesellschaft. Sich den schwarzen Peter zuzuschieben, wer was versäumt hat, müsste aufhören. 

Ist Deutschland attraktiv für Einwanderer?  

Dr. Keppeler: Es ist nicht so, dass Deutschland sonderlich attraktiv ist für ausländische Fachkräfte. Alle wollen gerne in Deutschland arbeiten, ist ein Trugschluss, vielleicht das Ergebnis von Arroganz in der deutschen Selbstwahrnehmung. Die Zivilgesellschaft muss den Menschen auch einen Lebensraum bieten, damit sie gerne nach Deutschland kommen. Ausländische Fachkräfte in meinem Umfeld schildern mir beispielsweise, dass sie mit Sorge auf rechtsnationale politische Entwicklungen in Deutschland blicken – das macht das Land unattraktiv, ebenso wie eine schleppende Digitalisierung. 

Integration ist keine leichte Aufgabe, auch nicht am Arbeitsplatz

Dr. Keppeler: Das kostet Anstrengung und ist nicht einfach. Es geht um Altersgruppen, aber auch um Diversität und Inklusion hinsichtlich der Herkünfte. Häufig sind nach einigen Jahren die Schwierigkeiten der Anfangszeit überwunden. Studien zeigen, dass solche hinsichtlich Alter und Herkunft verschieden aufgestellten Teams über längere Zeit sogar bessere Leistungen bringen können.












Dr. Florian Keppeler
Assistant Professor am Crown Prince Frederik Center for Public Leadership an der Aarhus University
Kuratoriumsmitglied Stiftung flexible Arbeitswelt

Dr. Florian Keppeler ©Universität Aarhus
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Massive Zinserhöhung des KfW-Studienkredits unsozial und Gefahr für Arbeitsmarkt

Vorstandsvorsitzender Wilhelm Oberste-Beulmann: Ohrfeige für angehende Führungskräfte

Der Studienkredit der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) war jahrelang ein wichtiger Baustein in der Studienfinanzierung. Seit die staatseigene Förderbank die Zinsen für die Kredite unerwartet massiv angehoben haben, fühlen sich viele Studierende gefangen in der Schuldenfalle. In einem Interview warnt der Vorstandsvorsitzende der Stiftung flexible Arbeitswelt, Wilhelm Oberste-Beulmann, vor den Folgen, wenn sich Studierende ein Studium nicht mehr leisten können – und gleichzeitig kluge Köpfe dem Arbeitsmarkt verloren gehen.


1. 9,01% effektiver Jahreszins. So teuer ist derzeit ein Studienkredit der staatlichen Förderbank KfW. Mit der Ankündigung, die Zinsen drastisch zu erhöhen, meldete die Bank zeitgleich ein überdurchschnittliches Konzernergebnis. Wie beurteilen Sie die Entscheidung der KfW?

Oberste-Beulmann: Die Entscheidung ist eine Ohrfeige für alle 90 000 Studierenden und vielen Absolventinnen und Absolventen, die sich darauf verlassen haben, dass sie den Studienkredit nach Ende des Studiums zu relativ flexiblen Konditionen zurückzahlen. So hat man es ihnen jedenfalls bei Vertragsabschluss versprochen. Für nicht wenige Studierende geht es jetzt um die Existenz. Denn auch ihr Leben ist im Zuge von Inflation und gestiegenen Lebenshaltungs- und Energiekosten deutlich teurer als vor der Pandemie. Ich kenne ein Beispiel, da bekommt ein Master-Student plötzlich 150 Euro monatlich weniger als zu Beginn seines Studiums ausbezahlt. Für ihn ist das eine Menge Geld, und er überlegt, ob er das Studium unterbrechen soll, um Jobs anzunehmen, damit er den Kredit tilgen kann. Das ist unsozial in hohem Maße und für den Arbeitsmarkt, auf dem händeringend qualifizierte Fachkräfte gebraucht werden, eine Katastrophe.


2. Was ist mit den Studienabsolventinnen und -absolventen, die schon in den Beruf gestartet sind, sich vielleicht selbständig gemacht haben, aber noch ein niedriges Gehalt bekommen?

Oberste-Beulmann: Diese Gruppe wird aus meiner Sicht vollkommen ignoriert. Schlimmstenfalls muss hier mit Privatinsolvenzen gerechnet werden. Ein junges Start-Unternehmen macht nicht sofort Gewinne, die jungen Unternehmerinnen und Unternehmer rechnen mit jedem Cent. Aber auch junge Angestellte sind im Dilemma. Ich kenne eine Master-Absolventin, die statt 250 Euro im Monat jetzt auf einen Schlag 100 Euro mehr monatlich an die KfW zurück zahlen muss. Das ist ein Skandal.


3. Das Zentrum für Hochschulentwicklung testet regelmäßig Studienkredite und sagt inzwischen, diesen Kredit könne man nicht mehr empfehlen. Was meinen Sie?

Oberste-Beulmann: Unter den jetzigen Bedingungen schließe ich mich der Meinung unbedingt an. Die flexiblen Rückzahlungsmöglichkeiten der KfW machten ihn jahrelang attraktiv für Studierende, die keinen Anspruch auf Bafög haben. Diese Gruppe von Studierende wird jetzt komplett vom Staat vernachlässigt. Bei der Debatte um Studienunterstützung geht es fast immer um die Bafög-Bezieherinnen und -bezieher. Was ist mit den jungen Leuten, deren Eltern ein Einkommen beziehen, das oberhalb der Bafög-Einkommensgrenzen liegt, und die aber dennoch nicht in der Lage sind, das Studium ihrer Kinder komplett zu finanzieren? Wenn mehrere Geschwisterkinder gleichzeitig studieren, ist das auch für „besserverdienende“ Eltern häufig nicht bezahlbar. Diese jungen Leute sind klar benachteiligt. Hier besteht Handlungsbedarf.

4. Haben Sie sich hierzu mit dem zuständigen Bundesministerium für Bildung und Forschung ausgetauscht?

Oberste-Beulmann: Den Interview-Wunsch unserer Redaktion hat Bundesministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) schriftlich „aus terminlichen Gründen“ abgelehnt. Ich bin enttäuscht, dass sich die Ministerin einfach wegduckt. Was jetzt beim Studienkredit der staatlichen Förderbank KfW passiert, steht im krassen Gegensatz zu den Äußerungen der Ministerin auf ihrer Webseite. Da heißt es, Bildung müsse für alle möglich sein. Chancengleichheit sehe ich hier nicht.


5. Wie beurteilen Sie die Forderungen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion in ihrem Antrag an die Bundesregierung, die Zinsen auf den Studienkredit deutlich zu senken?

Oberste-Beulmann: Den Antrag unterstütze ich voll und ganz. Konkret verlangt die Union, die Zinsen bei bestehenden Studiendarlehen jeweils auf den Wert bei Abschluss des Vertrags zu senken und für die gesamte Laufzeit festzuschreiben. Auch die Forderung, Notfallmechanismen zu schaffen, um Privatinsolvenzen zu verhindern, ist wichtig.












Wilhelm Oberste-Beulmann
Vorstandsvorsitzender der Stiftung Flexible Arbeitswelt

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WISSENTRANSFER VON EHRFAHRUNGEN ZU JUNGEN IST WICHTIG

Interview mit Reiner Timmreck, Geschäftsführer der Stadtwerke Iserlohn

1. Die Stadtwerke Iserlohn haben im vergangenen Jahr einen Wettbewerb der Energiebranche für wegweisende Projekte gewonnen. Ausgelobt wird der Preis vom Verband für kommunale Unternehmen, VKU. Glückwunsch an Sie und Ihr Team dazu, Herr Timmreck. Hat der Preis Ihrer Meinung nach außer Wertschätzung in Expertenkreisen auch dazu geführt, dass die Stadtwerke Iserlohn als Arbeitgeber an Attraktivität gewonnen hat?

Reiner Timmreck: Vielen Dank. Die Auszeichnung zeigt, dass wir innovative Ideen umsetzen und zukunftsorientiert arbeiten. Inwieweit der Award zur Steigerung unserer Arbeitgeberattraktivität beiträgt, ist schwer messbar. Eine Auszeichnung wie diese erzeugt aber immer Aufmerksamkeit, sowohl in der Branche aber auch bei uns in der Heimat, und das sorgt sicherlich dafür, dass wir als attraktives Unternehmen wahrgenommen werden.

2. Wie sieht es in Ihrem kommunalen Unternehmen mit Nachwuchskräften aus?

Timmreck: Wir bilden unsere Nachwuchskräfte im technischen und im kaufmännischen Bereich selbst aus und bereiten sie so auf die Aufgaben in der Zukunft vor. Dabei ist z. B. auch der Wissenstransfer von erfahrenen Kollegen an unsere Nachwuchskräfte ein wichtiger Faktor. So können wir oft unseren Personalbedarf mit Kräften aus den eigenen Reihen abdecken.
Viele unserer Mitarbeitenden sind bereits seit ihrer Ausbildung bei uns beschäftigt und haben durch zusätzliche Fort- und Weiterbildungen gemeinsam mit uns das Fundament für ihre Karriere gestaltet. Es macht Freude zu sehen, wenn Mitarbeitende ihren Weg im Unternehmen gehen.

3. Was unternehmen Sie, um geeignete Fachkräfte zu finden?

Timmreck: Trotz unserer breit ausgerichteten Ausbildungs- und Qualifizierungsmöglichkeiten merken auch wir die zunehmenden Herausforderungen bei der Gewinnung zusätzlicher Fachkräfte. Um so wichtiger ist es, immer wieder auch neue Wege im Bereich der Rekrutierung zu gehen und den Rahmen für eine berufliche Heimat in unterschiedlichsten Lebensphasen und -situationen zu bieten. Für die Einen sind klare Strukturen, Arbeitsplatzsicherheit und eine faire gleichberechtigte Tarifvergütung das A und O – während die Anderen größtmögliche Flexibilität in Bezug auf Arbeitsort und -zeit, Gestaltungsfreiheit sowie interne Aufstiegsmöglichkeiten anstreben. Um diese teilweise generationenabhängigen Bedürfnisse bestmöglich zu bedienen, hinterfragen wir regelmäßig unsere betrieblichen Rahmenbedingungen. Darüber hinaus bedarf es einer authentischen Arbeitgeberkommunikation nach außen und innen. Es ist wichtig, dass man nicht in bestehenden Strukturen verharrt.

Ein weiterer Faktor ist neben der Gewinnung von Fachkräften die Mitarbeiterbindung. Interne Personalentwicklung, Fort- und Weiterbildung sowie Wissenstransfer sind ein wichtiger Punkt.

4. Stichwort „Flexibles Arbeiten“: Was bieten Sie Ihren Mitarbeitenden an?

Timmreck: Die Angebote sind vielfältig wie die unterschiedliche Bedürfnisse der Mitarbeitenden. Von der alternierenden Telearbeit, mobiler Arbeit, Gleitzeit ohne vorgegebene Kernarbeitszeiten, eine weitestgehend flexible Pausengestaltung bis hin zu Job Sharing und Teilzeitmodellen. Dabei werden wir insbesondere auch den zahlreichen Möglichkeiten von Brückenteilzeit, Elternzeit und Pflegezeit gerecht. Diese Flexibilität bringt natürlich auch unternehmerische Herausforderungen mit sich und stößt hin und wieder an Grenzen. Dennoch versuchen wir immer gemeinsam mit unseren Mitarbeitenden einen tragfähigen Weg zu finden.

Ein breites Spektrum an flexiblen Arbeitszeitmodellen und Pausenregelungen, die Möglichkeit in familiären Notfällen den Arbeitsplatz umgehend verlassen zu können, ein problemloser Wiedereinstieg nach oder bereits während der Elternzeit, um nicht den Anschluss an die Entwicklung im Job zu verlieren, Home Office-Lösungen und Job-Sharing – dies alles sind Stichworte im Hinblick auf Stadtwerke Iserlohn als amilienfreundliches Unternehmen. Bestätigt wurde dies in bereits mehrfach durchlaufenen unabhängigen Zertifizierungsprozessen. Der Heimatversorger trägt seit 2016 das Prädikat „familienfreundliches Unternehmen.

5. Welche Erwartungen, Wünsche haben Sie an die Politik?

Timmreck: Eine noch deutlichere Positionierung der Politik zur dualen Ausbildung im Handwerk würde helfen, die notwendigen Ressourcen für die Zukunft bereitzustellen. Neben der gezielten Ansprache von Frauen müsste der Zugang für Flüchtlinge in diesen Bildungszweig verbessert werden (Stichworte: Sprachbarriere und Bürokratie). Die Aussage: „Handwerk hat goldenen Boden“ trifft mehr und mehr zu, dennoch sehen wir den Wert dieses wertvollen Assets durch die aktuelle Harmonisierungspolitik inflationiert. Hier ist eine deutliche Positionierung der Politik gefragt – Handwerk und damit auch der Kommittent auf die qualitätssichernde Meisterausbildung sind Teil der Lösung des Fachkräftemangels und sollte durch die Politik positiv flankiert werden.














Reiner Timmreck
Geschäftsführer der Stadtwerke Iserlohn

Bildquelle: Reiner Timmreck
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THEMEN DES ARBEITSMARKTES • PERSPEKTIVEN AUS VERSCHIEDENEN BRANCHEN

Interview mit Kristina Gerwert, Mitglied des Vorstands bei adesso SE

1. Frau Gerwert, zunächst nochmal herzlichen Glückwunsch zu der vierten Auszeichnung als Bester Arbeitgeber in der ITK. Was macht Ihr Unternehmen anders bzw. welche Kriterien sind für Sie wichtig, um als Arbeitgeber attraktiv zu sein?

Kristina Gerwert: Vielen Dank! Zunächst einmal ist es das Ergebnis der überragenden Bedeutung, die zufriedene und motivierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in unserem Unternehmen haben. Wir sind uns sehr bewusst, dass sie die Basis für unseren Erfolg sind. Dafür tun wir eine Menge und beobachten die Entwicklung sehr genau. Unternehmenskultur ist ein großes Wort, entscheidend ist, was dahintersteckt. Dafür haben wir einen eigenen Wertekanon entwickelt, der unter anderem konkrete Punkte wie Vertrauen und Freiräume für eigenverantwortliches Handeln, Transparenz, Team-Spirit, Vorfahrt für Innovationen oder auch die Vorbildfunktion der Führungskräfte umfasst. Sie sind als Kulturbotschafter:innen dafür verantwortlich, diesen Wertekanon täglich vorzuleben.

2. Wie erhalten Sie Rückmeldung von Ihren Mitarbeitenden, was ihnen gefällt und was nicht?

Gerwert: Offene Kommunikation und Feedback ist Teil unserer Kultur, ebenso wie gegenseitiger Respekt und Wertschätzung. Das erleichtert spontane Reaktionen. Daneben arbeiten wir natürlich auch methodisch und messen regelmäßig den Grad an Zufriedenheit, sowohl im kontinuierlichen anlassbezogenen Dialog als auch in institutionalisierten Personalgesprächen. Oder eben im Rahmen von Mitarbeiterbefragungen wie „Great Place to Work“. Und wenn es gut läuft, dann bekommen wir in einer Befragung auch schon mal das schöne Kompliment, das „größte Familienunternehmen der Welt“ zu sein.

3. Was raten Sie anderen Unternehmen, nicht nur was das Recruiting angeht, sondern auch wie es ihnen gelingt, Mitarbeitende zu halten?

Gerwert: Ratschläge zu geben, ist in meinen Augen schwierig. Es gibt keine allgemeingültige Checkliste, was einen guten Arbeitgeber ausmacht. Das Werteversprechen an die Mitarbeitenden ist einzigartig, der Wertekanon und die Unternehmenskultur sind für jede Organisation zwangsläufig verschieden. Von zwei Attributen profitieren Unternehmen aber immer: Authentizität und Neugierde. Authentizität in dem Sinne, dass sich das Unternehmen im Employer Branding und im Bewerbungsprozess unverfälscht darstellt. Denn nur, wenn die zukünftigen Mitarbeitenden einen realistischen Einblick gewinnen, können sie diesen mit ihren Vorstellungen und Erwartungen abgleichen. Und erfüllte Erwartungen führen zu Zufriedenheit und Bindung. „Leere“ Versprechen bewirken das Gegenteil. Neugierde bedeutet, für andere Sichtweisen und Vorgehen offen zu sein und sich als Unternehmen auch weiter entwickeln zu wollen. Diesbezüglich hilft es vielleicht auch, erfolgreiche Unternehmen und deren Vorgehen anzuschauen und sich ein paar zum eigenen Betrieb passende Zutaten herauszupicken. Das kann die Basis für das ganz eigene Rezept werden.

4. Worin bestehen Ihrer Meinung nach in den kommenden Jahren die größten Herausforderungen des deutschen Arbeitsmarktes?

Gerwert: Es macht einen großen Unterschied, ob Produktivitätsfaktoren wie die Optimierung von Produktionsstraßen oder das Supply-Chain-Management wichtig sind oder die Qualität, das Engagement und das Wohlbefinden der Mitarbeitenden. Alle, die wie wir im People Business aktiv sind, müssen die Voraussetzungen dafür schaffen, ein „Great place to work“ zu sein oder zu werden. Aspekte wie Arbeitszeitregelungen, Mobile Work und die Förderung einer diversen Unternehmenskultur sind mittlerweile harte Faktoren, an deren Optimierung wir täglich arbeiten und die wir immer wieder hinterfragen – und hinterfragen lassen. Wir müssen uns auch im internationalen Wettbewerb positionieren und dafür unternehmensübergreifend an den sozialen, kulturellen und rechtlichen Rahmenbedingungen arbeiten, um die Attraktivität Deutschlands für ausländische Fachkräfte zu verbessern.

5. Wie ist Ihre Einschätzung zum Fachkräfteeinwanderungsgesetz?

Gerwert: Das ist ein Beispiel für den zuletzt genannten Punkt. Die Modifikationen sind sicher ein Schritt in die richtige Richtung. Die IT-Branche braucht, wie viele andere auch, dringend qualifizierte Fachkräfte aus aller Welt. Die Änderungen erweitern jetzt zwar die globalen Möglichkeiten zur Akquise, allerdings stehen wir hier im harten Wettbewerb mit anderen Ländern. Und es bleibt die Frage, wie attraktiv Deutschland für ausländische Fachkräfte ist. Um die Attraktivität zu verbessern, reicht ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz allein nicht aus.

6. Arbeiten Sie auch mit Personaldienstleistern und Zeitarbeitsunternehmen zusammen? Wie sind Ihre Erfahrungen?

Gerwert: Mit Zeitarbeitsfirmen arbeiten wir nicht zusammen – dieses Arbeitsmodell passt nicht zu unserem eigenen Wachstumsbestreben. Personaldienstleister dagegen sind fester Bestandteil unseres Recruitmentmixes. Wir nutzen sie als einen von mehreren Kanälen bei der Einstellung von Fach- und Führungskräften. Sie leisten einen wesentlichen Beitrag zum Wachstumskurs von adesso, allerdings präferieren wir aus einer Reihe von Gründen andere Wege. Erstens sind sie vergleichsweise kostspielig, vor allem aber können wir mit Formaten wie „Direct Search“ oder „Mitarbeitende werben Mitarbeitende“ unsere eigene kulturelle Identität viel besser vermitteln und die gegenseitigen Erwartungen schon beim ersten Kontakt passgenauer abstimmen.

Kristina Gerwert
Mitglied des Vorstands bei adesso SE


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WEITERBILDUNG • QUALIFIZIERUNG • FACHKRÄFTEBEDARF

Interview mit Bundesminister für Arbeit und Soziales Hubertus Heil MdB

Bildquelle: BMAS / Dominik Butzmann

1. Welchen politischen Stellenwert haben Weiterbildung und Qualifizierung für Sie in dieser Legislaturperiode?

Hubertus Heil: Die „drei großen D“, also Digitalisierung, Demografie und Dekarbonisierung verändern unsere Arbeitswelt schon jetzt. Die Dynamik dieser Treiber wird in den kommenden Jahren noch deutlich zunehmen und unsere Arbeitswelt massiv beeinflussen. Das heißt: Wir werden mehr neue Fachkräfte aber auch andere Qualifikationen brauchen.

In den nächsten Jahren wird daher der Bedarf an beruflicher Umorientierung und Job- und Branchenwechseln weiter zunehmen. Weiterbildung und Qualifizierung werden vor diesem Hintergrund die zentrale Antwort auf den Strukturwandel. Mein Ziel ist es, Weiterbildung noch stärker in den Mittelpunkt gesellschaftspolitischer Debatten und sozialpartnerschaftlicher Verhandlungen zu stellen.

2. Sie sprachen kürzlich in einem Interview von einem „Weg in die Weiterbildungsrepublik”. Was meinen Sie genau?

Heil: Dabei geht es darum, durch einen neuen Schub für berufliche Aus-, Fort- und Weiterbildung oder Neuorientierung allen und besonders auch jenen, die mitten im Berufsleben stehen, gezielte Angebote zu machen. Wir brauchen mehr Möglichkeiten für Auf- und Umstiege in allen Lebenslagen und Brücken in eine neue Arbeitswelt. Wir wollen für einen solchen Übergang Sicherheit geben, aber auch dazu ermutigen, Neues zu wagen.

3. Welches „Handwerkszeug” sehen Sie aktuell, um Menschen in Arbeit zu bringen? Reichen die vorhandenen Ansätze des Förderns bei Ausbildung, Weiterbildung und Qualifizierung aus oder braucht es weitere Förderungsmöglichkeiten?

Heil: Die Qualifikation entscheidet maßgeblich über die Beschäftigungschancen. So fällt die Arbeitslosenquote bei Personen ohne abgeschlossene Berufsausbildung rund sechs Mal höher aus als bei jenen, die eine Berufsqualifikation haben. Deshalb zielt die Förderung stark auf das Erreichen eines Berufsabschlusses. Beispielsweise werden wir die Prämien bei erfolgreich abgeschlossenen Zwischen- und Abschlussprüfungen entfristen und somit Motivation und Durchhaltevermögen der Teilnehmenden bei abschlussbezogenen Weiterbildungen stärken.

Darüber hinaus müssen wir die Zugangschancen zur Weiterbildung verbessern. Mir ist es ein großes Anliegen, dass unsere Maßnahmen verstärkt auf die Aufstiegschancen von geringqualifizierten Personen ausgerichtet werden. Zudem nehmen Frauen deutlich seltener an betrieblichen Weiterbildungsmaßnahmen teil als Männer.

Auch auf Seiten der Betriebe haben wir große Potentiale: Der Großteil der Weiterbildungsaktivitäten in Deutschland findet in großen Unternehmen statt. Kleinere Unternehmen, insbesondere KMU, bieten deutlich seltener Weiterbildungen an – dies wurde durch die Corona-Pandemie verstärkt. Dies möchten wir gemeinsam mit den Betrieben und den Arbeitgeberverbänden angehen. So werden wir beispielsweise durch den Ausbau von Weiterbildungsverbünden im Rahmen der Nationalen Weiterbildungsstrategie neue und innovative Wege der Organisation von beruflicher Weiterbildung in den Betrieben unterstützen.

4. Welche Rolle spielt dabei das gern von der Politik proklamierte „lebenslange Lernen”?

Heil: Ich möchte auf eine zukunftsorientierte Weiterbildungskultur hinarbeiten. Wir müssen heute qualifizieren und weiterbilden für die Arbeit von morgen. Damit möglichst viele Menschen Schritt halten können mit den Anforderungen der modernen Arbeitswelt, brauchen wir eine vorausschauende Weiterbildungspolitik und transparente Weiterbildungsstrukturen in Deutschland. Weiterbildung entlang der eigenen Berufsbiographie, lebensbegleitendes Lernen, muss selbstverständlicher werden. Wir müssen dafür sorgen, dass Deutschland den Weg in die Weiterbildungsrepublik geht. Wenn wir es nicht tun, werden wir einen tief gespaltenen Arbeitsmarkt haben. Und das kann sich unsere Gesellschaft nicht leisten.

5. Wie sehen Sie in diesem Zusammenhang Kontrollmechanismen, Sanktionen und Mitwirkungspflichten?

Heil: Damit der Aufbruch in eine Weiterbildungsrepublik gelingt, bedarf es Kraftanstrengungen von verschiedenen Seiten. In den letzten Jahren haben Unternehmen und Sozialpartner bereits in einem hohen Maß Verantwortung für die Weiterbildung Beschäftigter übernommen. Zwar findet ein Großteil beruflicher Weiterbildungsaktivitäten in Betrieben statt. Jedoch zeigt sich, dass in Krisen wie der Corona-Pandemie die Weiterbildungsaktivitäten massiv eingebrochen sind. Das heißt: Das, was heute an Weiterbildung in den Unternehmen passiert, wird nicht ausreichen, um die Herausforderungen von morgen zu bewältigen. Wir müssen noch mehr in Qualifizierung und Weiterbildung investieren. Den Sozial- und Betriebspartnern kommt daher eine zentrale Rolle zu. Wir setzen hier auf Motivation und Befähigung – nicht auf Sanktionen. Übergreifend bin ich der festen Überzeugung, dass solche Sanktionen, die nicht helfen und Menschen unnötig verunsichern, abgeschafft gehören.

6. Was muss getan werden, um die Motivation zur Weiterbildung zu erhöhen – sowohl bei Beschäftigten, aber auch bei Arbeitgebenden?

Heil: Die Motivation unter Beschäftigen, an Weiterbildungen teilzunehmen, ist hoch. Ein zentraler Hinderungsgrund, an einer formalen Weiterbildung teilzunehmen ist jedoch mangelnde Zeit. Hier setzt beispielsweise unser Vorhaben einer Bildungs(teil)zeit an: Wir wollen eine Auszeit von bis zu einem Jahr (in Teilzeit bis zu zwei Jahren) ermöglichen, um sich weiterzubilden. Während der Bildungs(teil)zeit bieten wir Beschäftigten finanzielle Unterstützung für arbeitsmarktbezogene Weiterbildung. Unternehmen wollen wir Anreize für sozialpartnerschaftliches Handeln schaffen und ein Qualifizierungsgeld bei Betriebsvereinbarungen ermöglichen.

7. Was ist mit älteren Arbeitnehmenden, die sich weiterbilden möchten?

Heil: Weiterbildung ist auch für berufserfahrene, ältere Arbeitnehmende unverzichtbar. Daher wird die Weiterbildung von Beschäftigten ab 46 Jahren besonders gefördert. Es gibt hier keine Einschränkung auf Engpassberufe oder den Strukturwandel – eine Förderung der Weiterbildung ist für diese Beschäftigtengruppe grundsätzlich immer möglich. Damit haben wir den Fokus auf Berufserfahrene verstetigt.

8. Was unternimmt die Bundesregierung, um dem steigenden Fachkräftebedarf zu begegnen? Wie sollen ältere Mitarbeitende motiviert werden, länger ihr Knowhow im Berufsleben einzubringen?

Heil: Wir müssen heute dafür sorgen, dass auch in Zukunft ausreichend und passend qualifizierte Fachkräfte für den Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Wir haben uns daher vorgenommen, die Möglichkeiten für berufliche Neuorientierung, Aus- und Weiterbildung – auch in Teilzeit – zu verbessern. Darüber hinaus werden wir Maßnahmen ergreifen, um die Erwerbstätigkeit von Frauen weiter zu erhöhen. Auch Langzeitarbeitslose haben ein großes Potenzial, weshalb wir zum Beispiel das Nachholen eines Berufsabschlusses fördern. Und schließlich brauchen wir ergänzend Zuwanderung aus dem Ausland. Hierfür haben wir mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz eine gute Grundlage geschaffen.

9. Was sind die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf den Arbeitsmarkt?

Heil: Die Corona-Pandemie hat den Strukturwandel in einigen Branchen beschleunigt. Sie hat darüber hinaus schonungslos deutlich gemacht, dass viele Menschen, die dieses Land am Laufen halten, keine einfachen Arbeitsbedingungen haben – zum Beispiel in der Pflege, Logistik oder an der Supermarktkasse. Ähnlich wie schon im Jahr 2020 ist es uns aber wieder gelungen, den Arbeitsmarkt weitgehend zu stabilisieren. Ich bin sehr froh, dass wir es geschafft haben, in den vergangenen Wellen Millionen Arbeitsplätze zu sichern. Die Kurzarbeit ist dabei unsere stabilste Brücke über ein wirklich tiefes wirtschaftliches Tal.

10. Wie sehen Sie den deutschen Arbeitsmarkt in den nächsten Jahren?

Heil: Wir werden nach der Pandemie nicht einfach zur alten „Normalität“ zurückkehren. Und die Frage ist: Wie wollen wir in Zukunft arbeiten? Ein Blick auf die dynamischen Entwicklungen bei Schlüsseltechnologien wie Künstlicher Intelligenz oder der Wasserstofftechnologie deuten darauf hin, dass auch in den nächsten Jahrzehnten der Wandel unser beständiger Begleiter bleibt.

Einige Entwicklungen lassen sich bereits jetzt sehr gut prognostizieren: In Zukunft werden eine Vielzahl von Beschäftigten neue berufliche Perspektiven benötigen. Die Arbeit wird uns zukünftig nicht ausgehen. Aber es wird vielfach eine andere Arbeit sein, die andere Kompetenzen und Qualifikationen erfordert und die mit einer voranschreitenden Flexibilisierung der Arbeitswelt einhergeht. Wichtig ist mir: Auch in der Arbeitswelt der Zukunft soll der Mensch im Mittelpunkt stehen.

Hubertus Heil MdB
Bundesminister für Arbeit und Soziales
Weitere Informationen zu Hubertus Heil
auf der Website des BMAS


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GASTKOMMENTARE



UNTERNEHMEN DER PERSONALDIENSTLEISTUNG HABEN AUFGRUND HOHEN REKRUTIERUNGSAUFWANDS KEINE ZEIT FÜR QUALIFIZIERUNG

Gastkommentar von Richard Hofmann

Was sich im ersten Moment anhört wie die Metapher vom Holzfäller, der „vor lauter Baumfällen nicht zum Axtschärfen kommt“, ist bei genauer Betrachtung des Sachverhaltes nachvollziehbar. Die Zeitarbeitsbranche ist eine der wichtigsten Rekrutierungsinstrumente der deutschen Wirtschaft. Durch Gesetzes- und Tarifanpassungen konnte die Branche der Zeitarbeit, spätestens als erfolgreichster Integrator während der Flüchtlingskrise, ihre Leistungsfähigkeit unter Beweis stellen. Auch in der Zeitspanne der Corona Pandemie sorgt die Zeitarbeit dafür, dass Betriebe und Mitarbeiter flexibel auf pandemisch bedingte Einschnitte in das Arbeitsleben reagieren können und somit Arbeitsplätze erhalten wurden sowie schnelles, unbürokratisches Handeln möglich gewesen ist – in Kombination mit den Kurzarbeitsregelungen ein extrem wichtiges Instrument.

Mit zunehmender Stabilisierung des Wirtschafts- und Arbeitsmarktes sowie der schrittweisen Rückkehr zu einem „normaleren“ Leben, trifft man nun wieder auf einen „alten Bekannten“ mit dem Namen: Fachkräftemangel. Dieser führt dazu, dass Unternehmen verstärkt bereit sind, Personaldienstleister als Rekrutierungsdienstleister zu beauftragen. Das grundsätzliche Problem dieses Fachkräftemangels wird somit letztendlich allerdings nur in der Perspektive verlagert.

Einige, wenige Unternehmen in der Zeitarbeitsbranche sowie deren Verbände haben die Chance erkannt, in einem Notstand eine Chance zu sehen, und das Geschäftsmodell, Personal zu vermitteln, um das Thema „Qualifizierung von Potenzialträgern zu Fachkräften“ erweitert. Wohl keine andere Branche ist besser über die benötigten Qualifikationen der Unternehmen und zugleich deren Mangel an Fachkräften informiert
als die der Zeitarbeitsbetriebe. Dieses Knowhow ist extrem wertvoll und ermöglicht es der Branche, in Kombination mit der Qualifizierung eine wichtige Schlüsselrolle im Arbeitsmarkt zu erlangen. Wichtig ist, dass diese Qualifizierungen in einen anerkannten Abschluss münden und somit tatsächlich von einer Fachkraft gesprochen werden kann. Die Bildungsangebote decken mittlerweile Facharbeiter, Kaufleute und Akademiker ab.

Ein Umsetzungs-Hemmnis mag sicherlich sein, dass Zeitarbeitsbetrieben aktuell entweder schlichtweg die Kenntnis über die Möglichkeiten für erfolgreiche Qualifizierungsmodelle oder der notwendige Optimismus fehlen. Dabei werden Risiken und Aufwände meist überschätzt, was aus einer Umfrage der add-on GRUPPE hervorgeht. Vergleicht man Investitionen für Rekrutierungsinstrumente, den generellen Zeiteinsatz sowie erfolgreich und teuer gewonnene, aber nicht wertschöpfend abzuarbeitende Kundenanfragen, relativiert sich das Bild sehr schnell. Man muss definitiv nicht mehr bei null anfangen, sofern man als Personaldienstleister Fachkräfte qualifizieren will. Für eine erfolgreiche Umsetzung gibt es neben gutem Rat bei Verbänden und fachkundigen Beratern auch massive Fördermöglichkeiten für eine Finanzierung sowie Kooperationsangebote.

Die Zeitarbeit ist extrem stark darin, auf Regulierungen, Krisen und generell unerwartete Situationen zu reagieren, bei denen man eigentlich keine oder nur minimale Vorbereitungszeit hat. Nun hat man aus der Notwendigkeit heraus die Chance, selbst zu agieren – eine eventuell ungewohnte Situation, allerdings auch eine lösbare. Ich traue den Zeitarbeitsbetrieben diese Transformation zu! Die Branche ist sehr wettbewerbsorientiert und das sehe ich als wichtigen und sportlichen Motivationsfaktor.

Richard Hofmann CEO
Add-on Personal & Lösungen GmbH
Nürnberg

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